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Lesetipp Juni 2014: Ein sinnvoller Sinneswandel

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Ducklinks 2 - Mai 2014 »


Wer bin ich eigentlich? Bin ich der, für den ich mich halte? Oder der, den andere Menschen in mir zu erkennen glauben? Jeder Versuch, hierauf eine eindeutige Antwort zu geben, dürfte zum Scheitern verurteilt sein. Selbstbild und Fremdwahrnehmung lassen sich nicht strikt voneinander trennen, sondern beeinflussen sich vielmehr gegenseitig. Doch nehmen wir einmal an, beides fiele weg. Was bliebe dann übrig? Eine Chance?
Fragen wie diese bilden das gedankliche Zentrum von "Ein sinnvoller Sinneswandel" und verleihen der vor fünfundzwanzig Jahren entstandenen Geschichte ihren bemerkenswert zeitlosen Reiz. Behandelt werden sie im Rahmen eines Was-wäre-wenn-Szenarios, wobei das altbekannte Motiv des Gedächtnisschwundes als narratives Vehikel dient. An Originalität mangelt es der Umsetzung aber dennoch nicht, was vor allem dem Schachzug des Autors zu verdanken ist, zwei antagonistische Figuren dasselbe Schicksal erleiden zu lassen. Indem Alessandro Sisti die ewigen Rivalen Klaas Klever und Dagobert Duck in einen Unfall verwickelt, der zur Folge hat, dass sie sich in der Fremde wiederfinden, ohne zu wissen, wer sie sind, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ihre Charaktereigenschaften sowie ihr Verhältnis zueinander neu zu beleuchten. Sein Ansatz erscheint folgerichtig: Da sowohl das Selbstverständnis der beiden Figuren als auch ihre Konkurrenzsituation entscheidend von ihrem unermesslichen Reichtum und der damit einhergehenden Macht abhängen, versetzt er sie in einen Zustand scheinbarer Identitäts- und Mittellosigkeit, der es ihnen erlaubt, sich selbst und dem anderen unbefangen gegenüberzutreten. Unter diesen Bedingungen zeigt sich, dass die beiden notorischen Streithähne durchaus zu einer freundschaftlichen Beziehung fähig sind und darüber hinaus erstaunlich gut als Team funktionieren.
Es ist nun allerdings keineswegs so, dass diese Versionen von Dagobert und Klever mit den Figuren, wie wir sie kennen, nichts zu tun haben. Deren elementare Charakterzüge bleiben in Sistis Story bewahrt, erfahren aber aufgrund der anderen Umstände eine Umwertung. Auch als vermeintlicher Stadtstreicher zeichnet sich Dagobert durch Sparsamkeit, Tatkraft und Selbstbewusstsein aus, nur stellt er diese Qualitäten hier in den Dienst einer guten Sache, da er vorübergehend von seiner Identität als reichster Mann der Welt befreit ist, die ihn zur ständigen Vermögensvermehrung antreibt. Etwas anders verhält es sich im Falle von Klaas Klever, der traditionell auf die Rolle des intriganten Widersachers Dagoberts festgelegt ist, wodurch es ihm ein bisschen an charakterlicher Eigenständigkeit fehlt. Vor diesem Hintergrund ist es bloß konsequent, dass er als scheinbarer Niemand weniger selbstsicher auftritt als der alte Duck, eine Veranlagung, die hier jedoch nicht in Neid ausartet, sondern stattdessen in einer bedingungslosen Kooperationsbereitschaft zum Ausdruck kommt.


Doch bei allen Unterschieden, die Sisti betont, wenn er etwa deutlich macht, dass Dagobert mit einer ärmlichen Lebensweise besser umzugehen versteht als Klever, vergisst er niemals ihre Gemeinsamkeiten. Und was die beiden fraglos schon immer geeint hat, ist ihr Sinn fürs Geschäft. Gerade hierauf basiert nun aber der ebenso überraschende wie schlüssige Plot-Twist, dass sie mit einem Mal zu Kontrahenten ihrer Alltags-Ichs werden.
Das Wechselverhältnis der Identitäten gehört gewiss zu den raffiniertesten Aspekten der Story. Auf den ersten Blick verursacht das egoistische Handeln der Protagonisten Problemlagen, die von den amnestischen Versionen ihrer selbst gelöst werden. Das beste Beispiel hierfür ist die drohende Zwangsräumung der Armenmission, welche eine direkte Konsequenz des Neubauprogramms der beiden Finanzmagnaten ist. Als sie sich infolge ihres Gedächtnisverlusts in einer Position äußerster Schwäche befinden, entpuppt sich ausgerechnet diese karitative Einrichtung als ihr Rettungsanker, woraufhin sie alles daran setzen, die Zwangsräumung zu vereiteln. Die eigentliche Ironie dieser ungewollten Selbstsabotage besteht allerdings darin, dass sie dabei wiederholt von ihren tatsächlichen Identitäten profitieren. Nur deshalb, weil sie als Chefs des Bauunternehmens den Bauarbeitern keine Kantine zur Verfügung gestellt haben, können sie später an deren Hunger verdienen. Und lediglich aufgrund ihrer hohen Reputation gelingt es ihnen, ihre Gewinne an der Börse binnen kürzester Zeit zu vervielfachen. Wären sie bloße Stadtstreicher, hätte man sie nicht einmal das Gebäude betreten lassen. Damit wird eher beiläufig der von Dagobert propagierte Mythos konterkariert, dass es mit ein wenig Initiative jeder schaffen kann, der Armut zu entkommen.
Angesichts dessen ist es wohl angemessen, die Geschichte als Moralstück zu bezeichnen. An witzigen Stellen fehlt es trotzdem nicht, wobei der Humor in erster Linie auf der starken Diskrepanz zwischen unserem Wissen über die Figuren und deren höchst eingeschränkter Selbstkenntnis beruht. Die Zeichnungen des damals erst 20-jährigen Stefano Intini vermeiden es hingegen, die komischen Momente überzubetonen und vermitteln ein ziemlich ausgewogenes Bild, was den heutigen Leser verblüffen mag, der mit dem Namen Intini wahrscheinlich wilde Gagstorys verbindet. "Ein sinnvoller Sinneswandel" ist jedoch ein Frühwerk Intinis – seine zweite Arbeit als Disney-Künstler überhaupt –, in dem er einen am Cavazzano der 1980er Jahre orientierten Stil pflegt und das Artwork vollkommen in den Dienst des Erzählflusses stellt, was ihm auf beachtliche Weise gelingt.
Na, Lust bekommen, die Geschichte zu lesen? In diesem Fall empfehle ich die Anschaffung des Lustigen Taschenbuchs Nr. 155. Sollte dem nicht so sein, dann habe ich zum Glück noch ein Ass im Ärmel: Dagobert im Dussel-Look! Wen selbst das nicht lockt, dem rate ich, seine Prioritäten zu überdenken. Es wäre ein sinnvoller Sinneswandel.






Zuletzt aktualisiert: 04.07.2016, 20:16
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